Bernard Aucouturier beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie die Bedingungen in der frühen Kindheit sein sollten, damit sich ein Kind harmonisch, im Einklang mit sich und der Welt, entwickeln kann. Aucouturier hat beobachtet, was Kinder von der Geburt bis zum Alter von sieben, acht Jahren beschäftigt: was sie tun, was sie spielen, wie sie handeln und kommunizieren. Als ein Praktiker, der in vielen Ländern in Europa, Mittel- und Südamerika gearbeitet hat, fiel ihm auf, dass bestimmte Spiele der frühen Kindheit in allen Kulturen und von allen Kindern gespielt werden. Welchen Sinn, welche Bedeutung haben sie in der Entwicklung des Kindes? Wieso spielen alle Kinder beispielsweise mit »Füllen und Leeren«? Wieso spielen sie überall auf der Welt Verstecken und Fangen?
Für Aucouturier sind die Spiele der frühen Kindheit zum einen Repräsentationen der tonisch-emotionalen Erfahrungen des Kindes, die es in der Interaktion mit dem anderen (der Mutter) gemacht hat. Beim »Füllen und Leeren« geht es um eine Repräsentation der Erfahrungen, die ein Kind bei der Nahrungsaufnahme und -ausscheidung mit seinen ersten Bezugspersonen gemacht hat. Beim Versteckspiel geht es darum, welche Erfahrungen es mit An- und Abwesenheit des anderen, mit Trennung und Rückkehr verbindet. Unzählige Beispiele könnten angefügt werden. Darüber hinaus dienen diese Spiele auch der Rückversicherung.
Aucouturier beschreibt, dass auf der Suche nach der Identität zwei Verlustängste wirken: die Angst vor Verlust des eigenen Selbst und die Angst vor Verlust des anderen. Wenn das Kind Spiele spielt, in denen es den anderen in sich repräsentiert, in denen es den anderen in sich erschafft, bewahrt und in sich trägt, kann es seinen Weg hin zu Eigenständigkeit und Autonomie leichter gehen, als wenn es in endloser Suche nach dem anderen verstrickt ist. Deshalb nennt er die Spiele der frühen Kindheit »Spiele der tiefen Rückversicherung«.
Die Bedeutung des anderen, die Bedeutung der ersten Bezugspersonen für die frühkindliche Entwicklung wird damit noch einmal deutlich. Die Spuren der frühen Interaktionen schreiben sich als »Handlungsengramme« im Körper des Kindes ein. Sie können das Kind in seiner Entwicklung fördern oder hemmen. Wie hat das Kind die Handlungen der Mutter erlebt? Konnte es sie mitgestalten? Haben sich beide in einem Prozess befunden, in dem sie sich beide verändert und weiter entwickelt haben? Hat das Kind die Handlungen der Mutter so positiv erlebt, dass es sie wieder in sich aufleben lassen will - wie oben beschrieben als »Handlungsfantasmen«, die ihm helfen, sich mit der Zeit von der Mutter zu lösen und eigenständig zu werden? Oder waren sie so schmerzhaft und voller Spannung, dass das Kind sich gegen sie wappnen musste in Form eines überhöhten oder ganz niedrigen Tonus?
Bei gegenseitiger Lust und Freude in der frühen Interaktion, bei geglückten wechselseitigen Veränderungsprozessen entwickelt das Kind Handlungsfantasmen, die ihm helfen, die Angst vor Verlust des eigenen Selbst und die Angst vor Verlust des anderen mit der Zeit zu überwinden. In diesem Sinne ist die Ausbildung von Handlungsfantasmen von entscheidender Bedeutung auf dem Weg zu Loslösung und Autonomie.
Aucouturiers Ansatz, dass das frühe tonisch-emotionale Erleben Handeln und Denken des Kindes prägen, hat weitreichende Konsequenzen für die psychomotorische Intervention.
Die Psychomotorik in Pädagogik und Prävention sollte einen festen Platz im Rahmen der Institutionen der frühen Kindheit haben. Denn hier können in ganz besonderer Weise das tonisch-emotionale Erleben und die Spiele der tiefen Rückversicherung gelebt werden - begleitet von einem Erwachsenen, der ihnen Beachtung schenkt und ihren Sinn versteht. Hier zeigt sich die privilegierte Art und Weise des Kindes zu sein. Das tonisch-emotionale Erleben und die Spiele der tiefen Rückversicherung helfen dem Kind, nicht von einem Übermaß an Gefühlen überschwemmt zu werden. Oder um es mit Piaget zu sagen: sie helfen dem Kind, sich mit der Zeit dezentrieren zu können, eine Fähigkeit, die es spätestens zur Einschulung dringend benötigt. Denn nur wenn das Kind von sich selbst auch Distanz nehmen lernt, kann es sich Neuem öffnen, kann es die Freude am Lernen erfahren und entdecken.
In der therapeutischen Intervention geht es darum, diesen Prozess von wechselseitiger Handlung, Handlungsfantasmen, Rückversicherung und Dezentrierung in der intensiven Beziehung zwischen Therapeut und Kind wieder in Gang zu bringen und das Kind wieder in eine geglückte Handlungs- und Kommunikationsdynamik zu begleiten.
Und so ist Aucouturiers Buch nicht nur ein Buch zur frühkindlichen Entwicklung, sondern auch eine Art »Handbuch« für Praktiker mit praktischen Details zu Rahmen, Zielen, Haltung und Handlungsprinzipien im Ansatz Aucouturier.
Es ist nicht immer leicht, Aucouturiers Begrifflichkeiten zu verstehen. Sie unterscheiden sich vom deutschen Psychomotorik-Jargon. Und doch sind die Lesenden bei den Gedanken Aucouturiers immer wieder momenthaft mit der eigenen Erfahrung, dem eigenen Erleben bei den Gedanken von Aucouturier konfrontiert. Kennt man es selbst nicht auch – ohne immer gleich auf das Kind mit Schwierigkeiten blicken zu müssen? Kennt man die Suche nach dem eigenen Selbst, die immer wiederkehrende Angst vor dem Verlust des eigenen Selbst oder die immer wiederkehrende Angst vor dem Verlust des anderen nicht auch? Und eröffnet sich auf diese Weise nicht das tiefe Verständnis und die Einfühlung in den Ansatz Aucouturier?
Als ein Mensch, der die Arbeit von Bernard Aucouturier seit mehr als zwanzig Jahren begleitet, hat mich dieser Aspekt seiner Arbeit immer wieder begeistert: die Freude am eigenen Selbst zu entwickeln, »Ich-selbst« zu werden, »Ich-selbst« zu sein und darüber offen zu sein für den anderen, offen für Kommunikation und Kreation im Sinne von Gestalten der eigenen Welt – bezogen auf mich selbst und bezogen auf das Kind mit Schwierigkeiten.
Bonn, im Mai 2006
Marion Esser
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